Kletterfreizeit in den Tannheimer Bergen 15.9.1977

 

6:30 Uhr - Was für eine sch... Nacht. Ich habe kaum ein Auge zugemacht. Ich werde wach...Wir sind mit einer Gruppe Jugendlicher vom Jugendheim über das Wochenende auf die Pfrontner Hütte (heute Bad Kissinger Hütte) zum Klettern gefahren. Dabei war auch Herbert. In den Akten des Jugendamtes stand: aggressiv, unangepasst, sozial gestört und ständig in Schlägereien verwickelt. Herbert war das erstemal im Gebirge....Zweifel kamen auf, doch dann habe ich mich entschieden, ihn doch mitzunehmen. Es hat gestern den ganzen Tag geregnet und ist sehr kalt geworden. Die anderen standen ganz langsam auf.....Herbert war launisch und auch sehr skeptisch, was wohl alles auf ihn zukommen wird. Den ganzen Tag konnten wir nicht viel unternehmen, außer ein paar Abseilübungen.....wir lümmelten herum.....

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Eintrag 17.00 Uhr- Inzwischen war eine gemütliche Stimmung auf der Hütte. Der Wirt spielte auf der "singenden Säge" Auch Herbert war  ganz gut d`rauf. Eine Gruppe von Gästen fiel uns auf. Sie waren schon etwas älter und fast alle  ziemlich betrunken. Aus Gesprächen haben wir erfahren, daß diese Gruppe noch ins Tal nach Grän absteigen wollten. Beim Bezahlen machte der Hüttenwirt die Leute darauf aufmerksam, doch auf der Hütte zu übernachten, da mit soviel Alkohol ein Abstieg ins Tal ein extremes Risiko darstellt. Alle lachten den Wirt aus und meinten nur, daß sie alt genug seien und außerdem erfahrene Bergsteiger sind. Auch ich versuchte dann, die Gruppe zum hier bleiben zu überreden. Ohne Erfolg. Sie wurden nur frech und ausfallend.


Eintrag 19.00 Uhr Das Wetter verschlechterte sich- ein Gewitter kam auf- Es regnete...die Temperaturen sanken auf null Grad. Ein paar Jugendliche wollten unbedingt noch abseilen. Vor der Hütte war ein kleiner Trainingsfelsen. Herbert..unser Neuer wollte auch dabei sein. Er wollte zeigen, daß er keine Angst hat und meinte, was der kleine Christian kann, kann ich schon lange...Herbert hatte Angst, ich spürte es. Doch er schaffte das Abseilen problemlos. Er freute sich riesig und war dann super gut d`rauf. Die Angst war weg.... Ich dachte an seine Jugendamtakte.....


Eintrag 20.00 Uhr Wir sahen die bereits erwähnte Gruppe schwankend und johlend aus der Hütte stürmen... brüllend abwärts Richtung Tal.. Für mich und auch für meine "Jungs", war es unbegreiflich in diesem Zustand und noch bei diesem Wetterumschwung....Besonders fiel uns eine Frau auf. Eine recht "beleibte"( sehr sehr dick ), die sich kaum noch auf den Füßen halten konnte. Die Gruppe verschwand aus unseren Augen.....Plötzlich hörten wir einen durchdringenden Schrei....Dann war alles ruhig..... Hilfeschreie kamen uns entgegen... Wir schauten uns nur an -jetzt war es soweit........ Was geschehen ist, konnten wir nicht sofort feststellen. 

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Es war schon fast dunkel geworden und schneite....Nebel kam auf. Herbert und ich suchten die Gruppe. Die anderen alarmierten den Hüttenwirt. Es war schlimm, als wir die Gruppe fanden...alle waren ängstlich und verstört....keiner lachte mehr...Die Frau, die uns besonders aufgefallen war, stürzte einen ca. 200 m tiefen Felsabbruch hinunter. Es war schon zu dunkel um zu sehen, ob die Frau noch lebte, oder schwere Verletzungen hatte. Wir ahnten das Schlimmste. Herbert schrie vor Aufregung -los, wir müssen was tun, wir müssen helfen- schnell... Ich versuchte zuerst die Leute zu beruhigen. Herbert rannte zur Hütte und holte die Seile und Stirnlampen, sowie den 1. Hilfe Koffer. Inzwischen war auch der Hüttenwirt da mit einem großen Suchscheinwerfer. Wir konnten nun alles sehr gut ausleuchten... Tief unten lag die Frau....sie blutete stark...sie bewegte sich nicht. Es war höchste Eile geboten. Daneben standen  fassungslos die "tollen Freunde" der Frau.. Was passiert war, konnten sie alle  nicht fassen und begreifen...sie waren ja so erfahren.....tolle und gute Bergsteiger ! Der Hüttenwirt holte eine Seilwinde (Flaschenzug). Der Wirt kannte mich von vielen Übernachtungen und Touren. Wir brauchten nicht viel reden......Wir wussten um was es ging..... Er band mich in das Seil ein und ließ mich langsam den Felsvorsprung hinunter. Im Schein der Stirnlampe sah ich, daß die Frau bewußtlos und sehr schwer verletzt war, aber noch lebte. Sie blutete aus vielen Wunden...Die Kälte spürte ich nicht mehr. Alleine konnte ich die Frau nicht bergen -ich brauchte Hilfe- Ich ließ mich noch mal hochziehen. Mit der Winde könnte die Bergung klappen. Herbert wollte unbedingt helfen...wir seilten uns gemeinsam zu der Frau ab. Er war ziemlich geschockt, als er bei der Frau ankam. Ich hängte mich nun an das Stahlseil, die Frau wurde in einem Sitzgurt befestigt....langsam wurden wir in die Höhe gezogen. Herbert legte sich alleine Prusikschlingen an und schob sich an dem Bergseil in die Höhe. (Das Anlegen der Knoten hatte Herbert erst vor 2 Std. gelernt) 

Er hat es geschafft - selbst in einer solchen Notsituation- Die Flugrettung brachte die Frau in die Unfallklinik nach Innsbruck. Nachdenklich, ziemlich fertig und abgekämpft gingen wir nun alle in die wärmende Hütte zurück. Jeder hing seinen Gedanken nach..... Stimmung kam nicht mehr auf.. Für Herbert war es unfassbar, daß die Frau nach einem solchen Sturz noch lebte. Er hatte großen Anteil daran, an dem Gelingen dieser Bergrettung. Wir erfuhren vom Hüttenwirt nach einigen Wochen, daß die Frau nach mehreren Knochenbrüchen und einem Schädelbruch auf dem Weg der Besserung ist.

Bei Herbert vollzog sich eine Wandlung....
Ich habe noch heut Kontakt zu ihm... Es war toll, daß er dabei war.... Gerade solche Erlebnisse bleiben haften......... vielleicht für seine weitere positive Entwicklung.. Herbert schloß nach seinem Heimaufenthalt eine kaufm. Lehre mit Erfolg ab. Er wurde Mitglied im Alpenverein..

 


 

                           

                                                      Sachsendorf  •  2001-2009